Hamburg (pha) Heute Vormittag klingelte es unten bei uns im Haus und unsere Vermieter, ein sehr reizendes älteres Paar, öffnete einem jungen, sympathischen Mädchen die Tür.
Dieses Mädchen, ich nenn sie mal Lara, ist schätzungsweise 15 Jahre alt, hat grosse braune Kulleraugen, dunkler Teint, schwarze seidige Haare und ein strahlend weisses Lächeln im Gesicht. Sie war gepflegt, hübsch angezogen und alles Gute zusammen versteht sie sehr geschickt einzusetzen. Und dabei wirkt sie so unschuldig wie man nur sein kann. Sogar die farbenfrohe Postkarte in der Hand, mit der sie um Geld bettelte, rundete das schöne Gesamtbild ab.
Unsere Vermieter haben eine neue, noch relativ junge Hundin, Dusha, ein 2020-er Tierheimimport aus Moskau. Dusha (russ. für Seele) ist mittelgross, sehr verspielt und mit ordentlich Pfeffer im Hintern.
Die wilde Hilde, also Dusha, drehte beim Anblick von Lara gleich auf – viel mehr als sonst bei Lars unserem armen Postboten – und gab Vollgas. Sie schloss Lara gleich in grosses russisches Herz, rannte sie fast um, sprang an ihr hoch, schnappte liebevoll nach ihr und wollte spielen.
Lara war darüber sehr erschrocken und konnte mit der Wildheit der jungen Hündin in dem Moment nicht viel anfangen, ausser dass sie sich an die Hauswand drückte, den Atem anhielt und die Szene mit dem Hund ängstlich beobachtete. Unsere Vermieter versuchten den jungen Wildfang lautstark zu bändigen, weshalb wir oben im Büro erstmal auf das ganze Schauspiel aufmerksam wurden.
Neuierig wie Menschen nunmal sind, öffneten wir das Fenster und schauten nach unten, um dem Geschehen gewahr zu werden.
Nebenbei bemerkt, Dusha kommt oft die Treppe zu uns rauf, sitzt wartend und bewegungslos wie eine Statue vor unserer Glastür bis wir sie zufällig mal sehen. Dann bekommt sie von uns -wie wir zu sagen pflegen- eine extra Portion Glück, Leckerlis eben. Duscha ist einfach auch eine gute Bettlerin, mit grossen braunen Augen.
Die Lage unten entspannte sich ein wenig und das Mädchen konnte wieder Luft holen. Das nutzten unsere Vermieter gleich aus um dem reizenden Ding ein paar Fragen zu stellen. Für die beiden war der Besuch ja eine willkommene Abwechslung.
Sie fragten Lara woher sie kommt, ob sie nicht Lust hat richtig deutsch zu lernen, in die Schule zu gehen und eine ordentliche Ausbildung in einem schönen Beruf zu machen. Das klassisch farblose Lebensbild von Senioren eben.
„Ein Lächeln kostet nichts und bringt so viel.“
Lara lehnte dankend und lachend ab und kam auf ihr ursprüngliches Ansinnen zurück. Sie wollte eine Spende für ihre bettelarmen Leute in Bukarest und hätte im Tausch dafür auch eine Postkarte – im Wert für vermutlich 50 Cent.
Unsere Vermieter zeigten sich dahingehend einsichtig, dass man eben seine Leute in Bukarest unterstützen muss. Das sind doch auch irgendwie ihre Leute, One-World-One-Nation eben. Da ist es doch selbstverständlich diesen armen Menschen zu helfen.
Beide erlagen gänzlich dem Charme von Lara und ihrem eigenen Mitgefühl. Sie gaben sich geschlagen, kramten Kleingeld aus ihren Portemonnaies und drückten Lara immerhin fast 10,- EUR in die Hand. Man tut eben was man kann.
Lara bedankte sich sehr höflich und hatte zwischenzeitlich ihr strahlend weisses Lächeln wieder gefunden. Dann flatterte sie wie ein Vögelchen fröhlich winkend vom Grundstück und klingelte beim Nachbarhaus. Dort war keiner Zuhause und die Nachbarn hatten somit leider ihre Chance verpasst, heute ihren menschlichen Verwandten in Bukarest eine Freude zu bereiten. Lara lief trotzdem beschwingt die Strasse runter, raus aus unserem Blickfeld und ihrem Glück entgegen. Die ganze Schauspiel dauerte nicht einmal fünf Minuten.
„Kinderhandel“
Später am Tag fiel mir eine Dokumentation ein, die ich erst kürzlich bei Arte gesehen habe. In dieser ging es auch um rumänische Kinder, die von ihren Familien gezielt durch Europa geschickt werden. Nicht etwa um eine Schule zu besuchen und geregelt zu leben, nur zum Klauen und zum Betteln eben. Der Titel ist tatsächlich „Kinderhandel“.
Eine Doku (F), noch ganz frisch aus dem Jahr 2019. Sehr spannende, bewegende und mitunter traurige 57 Minuten, von Regisseur Olivier Ballande.
In dem ganzen Geschehen fiel mir eine Begebenheit wieder ein, die ich vor etwa zwei Jahren selbst erlebt habe und an Dreistigkeit wohl kaum zu überbieten ist.
Ich habe sie in der Vergangenheit schon relativ vielen Leuten erzählt und die meisten zeigten sich davon betroffen oder auch entrüstet. Denn diese wahre Geschichte zeigt, wie einfach wir über unser Mitgefühl zu manipulieren sind.
Ich wollte das Erlebte immer wieder mal nieder schreiben. Doch wie das im Leben so ist, manchmal schiebt man Dinge auf die lange Bank. Sie verlieren mit der Zeit an Gewicht, verschwinden erstmal irgend wohin, führen ein Dasein als Randerscheinung, bis sie urplötzlich wieder wichtig erscheinen. Heute habe ich mir tatsächlich die Zeit genommen und schreibe die Geschichte nieder. Mein grosser Dank gilt „Arte“ und natürlich „Lara“.
Es war einmal
Eines morgens, ich war in Niendorf-Nord, einem Stadtteil in Hamburg der gleich an Schleswig-Holstein grenzt, unterwegs und wollte zur Post; zu Fuss.
Auf dem Weg dorthin musste ich auf dem Fussweg einer kleinen Straße warten, um Autos vorbei fahrend zu lassen. Es war viel los, morgens fahren die Pendler alle in die Stadt rein zur Arbeit. Da hat man’s eilig, da guckt man stur gerade aus, fährt so schnell es eben geht und hält erst recht nicht an, um so einen Fussgänger wie mich über die Strasse zu lassen.
Rechts von mir führte die Strasse weiter und so zirka 20 m links von mir war eine Kreuzung, mit Ampel. Man kann bei dieser Kreuzung nicht um die Ecke sehen, da dort ein ziemlich grosses Gebüsch steht und die Sicht versperrt.
Also, ich steh da so an einem Morgen im Hamburger Norden, ich warte und der Verkehr rollt an mir vorbei. Auf einmal höre ich ein Geräusch, so eine Mischung aus tiefem Brummen und lautem Röhren, ein Geräusch das irgendwie nicht in diesen Raum und diese Zeit hinein passt. Ein Geräusch, bei dem Männer wie aus dem Nichts heraus vor Aufregung feuchte Hände und grosse, leuchtende Augen bekommen.
Wie ferngesteuert drehte sich mein Kopf nach links und ich konnte noch nicht sehen was da Gewaltiges auf mich zu kommt. Ich konnte es nur hören, es klang wie eine Mischung aus Helikopter, Superbike und Supersportwagen. Auf alle Fälle klang der Sound sehr gesund und nicht wie ein kaputter Auspuff von irgendwas.
Die Ampel sprang auf rot – und dann kam „Er“ um die Ecke, ganz langsam im Schritttempo. Zuerst sah ich diese wundervoll geschwungene Linie einer Coupeform und dann diese wunderschöne Frontpartie mit dem bekannten Logo aus Stuttgart, dem Sinnbild für Luxus und Sportlichkeit auf vier Rädern. Es war ein Wow, ein Porsche Panamera, für mich persönlich eines der gelungensten Designs im Automobilbau überhaupt.
Mein Blick saugte sich quasi an dem Auto fest, dass jetzt -immer noch langsam- an mir vorbei fuhr. Ich schaute hinterher und sah, dass der Wagen nur etwa 10 Meter rechts von mir stehen blieb. Nun wäre zwar eine gute Gelegenheit gewesen über die Strasse zu gehen, da gerade mal keine Autos fuhren, aber ich blieb aus irgendeinem Grund einfach stehen. Und nicht nur das, als die Fahrertür aufging und ein Mann in einem billigen Polyesteranzug ausstieg, ging ich wie magnetisiert in Richtung zu dem Panamera.
Der „Fahrer“ in dem billig wirkenden Anzug funkelte förmlich in der Morgensonne, weil er auffällig viel Gold an seinem Hals, den Handgelenken und Fingern trug. Irgendwie passte dieser Mann stilistisch überhaupt nicht zu dem Designwunder aus der Edelschmiede, dass er gerade verlassen hatte um zur Beifahrertür zu gehen.
Doch noch wundersamer wurde es erst jetzt, denn der „Fahrer“ machte die Beifahrertür auf und der Bettler der immer vor dem REWE in Niendorf-Nord sitzt, stieg gerade aus dem Wagen.
Das machte mich nicht nur leicht stutzig, und meine Neugier bekam neues Futter, denn die Scheiben waren beim Porsche hinten getönt und man konnte nicht richtig hinein schauen.
Ich ging deshalb näher ran. Dann machte der Fahrer die Tür hinten auf und ihm wurden Krücken von innen nach aussen gereicht. Die Krücken bekam natürlich der Bettler vom REWE in die Hand gereicht, das Werkzeug eben. Nun konnte ich noch einen Blick in den Fond werfen und sah da zwei weitere Bettler sitzen die man eben so aus dem Stadtgeschehen kennt.
Was macht das mit einem?
Ich war erstmal perplex und stand noch fassungslos da, als der Porsche schon weg war und der „REWE-Bettler“ zu seinem Platz ging. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren, die Enttäuschung über das eben Gesehene zu bewältigen und leicht aufsteigende Wut zu unterdrücken.
Was war da passiert? Fahren die wirklich täglich mit dem Porsche zum Betteln? Oder war es nur eine der wenigen Ausnahmen, dass tatsächlich der -ich nenn ihn mal- „König der Bettler“ seine Bediensteten zu ihren Einsatzplätzen fährt? Und holt er sie mit vermutlich vollen Taschen am Abend wieder ab? Wäre doch sehr auffällig.
Kommt da soviel zusammen, dass man sich so ein Auto leisten kann? Ich habe bei Porsche angerufen, allein der Bremsenwechsel kostet 5.000,- EUR und wenn die Dinger aus Keramik sind, sogar mindestens 10.000,- EUR.
Was ist das eigentlich für eine miese Masche? Auch für die Bettler auf der Strasse? Denn nicht die sind es die den grossen Reibach machen, die werden vermutlich ausgebeutet, liefern ab, können nicht anders; die fahren ja schliesslich auch keinen Porsche wo allein das Bremsen mit 5.000,- zu Buche schlägt.
Und die anderer Seite, also wir? Tägliche gehen zigtausende Menschen in ihrer Gutmütigkeit und Gutherzigkeit diesen Abzockern auf den Leim.
Die einzigen Profiteure sind in meinen Augen kriminelle Organisatoren im Hintergrund. Und das es sehr profitabel ist, zeigt die Luxuskarre und das viele Gold des „Fahrers“.
Seitdem ich erlebt habe, was ich erlebt hab, gebe ich keinem Bettler mehr ein Almosen. Das ist nicht so leicht wie es klingt. Habt ihr schon mal probiert hart zu bleiben, die Blicke und das Lächeln der bettelnden Menschen bewusst auszuhalten, nicht nachzugeben und „Nein“ zu sagen? Und sich in dem Moment auch nicht bei denen zu entschuldigen? Also kein „Nein, Sorry“, sondern nur ein klares „Nein“?
Trotz zwischenzeitlicher vieler „Neins“ von mir, ist es für mich heute auch noch unglaublich schwer standhaft zu bleiben. Ich glaube es geht leider sehr vielen Menschen so und man braucht am besten selbst so eine Erfahrung, um in Zukunft über den sprichwörtlich eigenen Schatten springen zu können. Aber versucht es ruhig mal selbst mit… Augenkontakt, zurück lächeln, Kopf schütteln und „Nein“ sagen.
Spendenquittung? Fehlanzeige
Gibt es seit Januar 2020 in Deutschland nicht die Bonpflicht? Die Idee kommt mir gerade beim Schreiben. Habt ihr schon mal nach einer Spendenquittung gefragt? Ich jedenfalls nicht.
Damit könnte man bei den professionellen Bettlern doch ganz charmant den Spieß umdrehen. Jede Seite bewahrt ihr Gesicht und ihrem „Chef“ können sie am Abend eine gute Ausrede liefern, dass sie heute nichts „verdient“ haben.
Ohne einen Bon sind die Einnahmen beim Betteln mindestens steuerfrei. Und wenn man den sprichwörtlichen Teufel an die Wand malt, stehen die Bettler im Extremfall noch im Bezug von ALG 2 und geniessen dazu Vollversorgung im Gesundheitssystem.
Das ist doch absolut nicht fair unserer Gesellschaft gegenüber. Ich habe nichts gegen den Bezug von Sozialleistungen, im Gegenteil. Wenn der Anspruch besteht, okay, so ist eben die gesetzliche Lage und so muss eigentlich auch keiner in Deutschland Hunger leiden, dass schafft sozialen Frieden. Aber dann noch organisiert abzocken gehen, und zwar uns alle, dass ist in meinen Augen kriminell.
Den Sumpf trocken legen
Also, was kann man gegen solche Kriminelle tun? Gegen solche, die auf unsere Kosten wirklich in Saus und Braus leben.
Der Staat kann ja nicht überall gleichzeitig sein und wir tragen selbst die Verantwortung für unser Handeln. Unser Handeln besteht nur darin Geld zu geben oder eben nicht.
Können wir diesen Sumpf trocken legen? Können wir mal unsere Gutmenschen-Naivität hinten anstellen die ohnehin nur ausgenutzt wird? Schauen wir doch erstmal, wem wir was und wofür geben?
Nur Sachspenden
Wenn ich zum Beispiel am Bahnhof oder in der Bahn von einem offensichtlich Suchtkranken, also einem wirklich Bedürftigen angebettelt werde, gebe ich grundsätzlich nie Geld. Ich möchte auf keinen Fall die Sucht des Kranken, seinen Dealer und dessen Dealer unterstützen, die die Krankheit ausnutzen.
Ich frage meist, ob etwas zu Essen auch okay ist. Und dann nehme ich mir wirklich die paar Minuten und gehe mit der Person zum Bäcker, kaufe etwas und quatsche noch mit ihr. Stelle offen Fragen zur Sucht, und ob nicht mal eine Therapie in Frage kommt.
Meine Erfahrung zeigt, das allein das Reden den Betroffenen hilft, weil sie in dem Moment mal anders von uns „Normalos“ wahr genommen werden. Da stellt jemand Fragen, da zeigt ein anderer Interesse an ihm als Mensch. Dieser Mensch ist zumindest in dem Moment mal nicht entmenschlicht.
Nunja, vielleicht habe ich auch einfach nur leicht reden, weil ich seit Jahren praktisch in der Suchttherapie arbeite und eben weiss, dass die meist herunter gekommenen und verwahrlosten Junkies auch eine andere Seite haben. Die zeigen sie erst, wenn sie lange genug auf Entzug waren und auf dem Weg zu sich selbst sind. Erst dann kann man hoch sensible Menschen sehen, in denen ganz viel Kreativität, aber auch Verzweiflung über ihr Schicksal steckt.
Update 19.08.2020/Basel/CH
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